Die Drehbuchschneiderei

Das Thema einer Geschichte zu benennen ist manchmal schwierig. Ein Blick auf die Story World kann helfen.
08/02/2022
Alexander Lauber
Aus der Rubrik:

Alexander Lauber ist Lektor und Dramaturg, Mitglied im Vorstand des Verbandes für Film- und Fernsehdramaturgie VeDRA e.V. und Redakteur des Online-Fachmagazins Wendepunkt. Die ARD Degeto und das ZDF gehören seit Jahren zu seinen zufriedenen Kunden. Alexander lebt und arbeitet in Berlin. In seiner Freizeit beschäftigt er sich mit Schach und Meditation.

Dieser Artikel erschien auch im „Wendepunkt“, dem Magazin des Verbandes für Film- und Fernsehdramaturgie VeDRA e.V. unter dem Titel: „Thematische Variationen. Fargo und das Modell der geteilten Stadt“.

Ein dunkler PKW schält sich aus dichtem Schneetreiben, kommt – ein zweites Fahrzeug im Schlepptau – langsam näher, passiert schließlich eine Stadtgrenze und dabei eine überdimensionale „Paul-Bunyan“-Statue, die sich scheinbar tapfer Wind und Wetter entgegenstellt. Willkommen in Fargo, North Dakota, oder zumindest dem Fargo in der zweifach oscarprämierten Filmversion der Brüder Joel und Ethan Coen. Noch wissen wir nicht, dass der von Schulden geplagte Versicherungsvertreter Jerry Lundegaard gleich in einer schäbigen Bar zwei übelgelaunte, doch unfähige Ganoven anheuern wird, seine Frau zu entführen, und noch sind wir gut eine halbe Stunde davon entfernt, die Protagonistin Marge Gunderson kennenzulernen, eine hochschwangere Polizistin, die – wie alle Menschen in dieser Gegend – gerne und häufig Ausdrücke wie „Geez“ oder „Yah“ gebraucht. Doch schon nach diesen wenigen Sekunden ist klar: Wir sind in einer Welt der Gegensätze gelandet. Einer Welt, wo eisige Kälte auf stoische Gelassenheit trifft und die Gutherzigkeit und Naivität ihrer Bewohner auf eine alles in allem lebensfeindliche Umwelt. Showrunner Noah Hawley fasste diesen Gegensatz viele Jahre später als „das Beste in Amerika gegen das Schlechteste in Amerika“ zusammen und pitchte so sein erfolgreiches FARGO-Reboot, das in naher Zukunft in seine fünfte Staffel gehen soll.

FARGO tut in meinen Augen das, was jede gute Geschichte zu Beginn tut: Sie etabliert ihr Thema – auf eine intuitive, nonverbale Art. Niemand wird damals am Set gestanden und gesagt haben: „Wir drehen jetzt eine Szene, in der das gute Amerika auf das schlechte Amerika trifft.“ Und dennoch: Das Thema ist da, vom allerersten Moment an. Es überformt den Plot, schafft Kontraste und so letztlich das Potenzial für die Geschichte, als bedeutungsvoll empfunden zu werden.

Dasselbe Thema ist auch am Ende des Films präsent, als Marge dem bereits verhafteten Killer Grimsrud ihr Schlussplädoyer vorträgt und dabei nicht nur seine Motivation in Frage stellt, sondern sich gleichzeitig auch ihrer eigenen Werte und derer ihrer Gemeinschaft rückversichert.

„And for what? For a little bit of money“, beginnt Marge mehr an sich selbst gerichtet.

Die beiden sitzen in einem Streifenwagen, getrennt nur durch einen Maschendraht, doch im Rückspiegel wirkt Grimsruds ewig schweigende Fratze des Bösen ferner denn je.

„There’s more to life than a little money, you know. Don’t you know that?“, wendet sie sich schließlich direkt an ihn. Grimsruds ausdrucksloser Blick verrät, dass er Marges optimistische Weltsicht nicht teilen kann. Während er hinaus in den Schnee starrt und dabei vermutlich nichts als ewige Leere sieht, beendet Marge ihre Betrachtungen, um Erklärungen verlegen und doch mit derselben Unerschüttertheit, die sie schon von Anfang an auszeichnete:

„And here ya are, and it’s a beautiful day.“

Und als ob die Parallelität dieser beiden gegensätzlichen Realitäten ihr keine Ruhe lässt, fügt sie schließlich noch hinzu:

„I just don’t understand it.“

Variationen des Themas begegnen uns über das gesamte FARGO-Universum verteilt. Sie sorgen für Kontinuität in einem Franchise, das in seinem Format als Anthologie-Serie per Definition auf Kontinuität durch Handlung und Figuren verzichtet. Eine beinahe identische Kopie von Marges „Beautiful-Day“-Monolog finden wir in Staffel 1, Episode 7, „Who Shaves the Barber?“, als die ebenfalls hochschwangere Polizistin Molly Solverson dem in Handschellen an ein Krankenhausbett gefesselten stummen Killer Mr. Wrench fast wortwörtlich denselben Vortrag hält.

Interessanterweise kommt das Grauen in FARGO stets von außerhalb, meistens aus der großen Stadt. In Staffel 2 erhält das als „Familienunternehmen“ organisierte Gerhard-Syndikat unerwartet Konkurrenz von der Kansas-City-Mafia, die mit ihren Business-Meetings, Powerpoint-Präsentationen und Strategie-Papieren eher an einen großen Konzern erinnert. Mögen die Gerhards auch nicht gerade „das Gute in Amerika“ verkörpern, so haben sie doch zumindest ein Gesicht, besitzen Stolz und eine Moral, während die Drahtzieher ihres übermächtigen Rivalen buchstäblich im Dunkeln bleiben, wodurch ihnen auch auf der Bildebene jede Menschlichkeit abgesprochen wird.

Immer wieder bewegt sich FARGO entlang dieser imaginären Grenzlinie, wo sich für Menschen, die das Herz noch am rechten Fleck tragen, ein Tor zur Hölle auftut und sie in Abgründe blicken, die sie bis dahin bestenfalls aus Erzählungen kannten. Genau das widerfährt auch dem alleinerziehenden Witwer Gus Grimly, einem Streifenpolizisten, der eigentlich lieber Postbote geworden wäre, als er in Staffel 1, Episode 1, „The Crocodile’s Dilemma“, im Rahmen einer Verkehrskontrolle plötzlich Lorne Malvo, einem Killer mit einem sehr eigenwilligen Sinn für Humor und einem noch eigenwilligeren Haarschnitt, gegenübersteht. Gus braucht einen Moment, bis er den Ernst der Lage begreift, doch Malvo erklärt ihm geduldig seine Optionen: Gus könne jetzt seine Pflicht tun, feststellen, dass der Wagen gestohlen ist und dann gemeinsam mit Malvo herausfinden, wohin dieser Weg führt. Oder er könne nach Hause gehen zu seiner Tochter und sich in ein paar Jahren daran erinnern, dass er damals den Weg ins Licht gewählt hat anstatt den Weg in die Dunkelheit.

In all diesen Beispielen manifestiert sich das Thema in Form von Kontrasten. Dabei wird das eingangs etablierte Ungleichgewicht mit zunehmender Dauer variiert, vertieft, fortgeschrieben und so letztlich immer weiter erforscht. Diese „offene“ Behandlung des Themas unterscheidet sich von der „geschlossenen“ Herangehensweise eines Lajos Egri, der Erzählungen eher als Beweisketten einer eingangs aufgestellten These oder „Prämisse“ begreift, wie man in seinem Werk „The Art of Dramatic Writing“ erfährt. Sie unterscheidet sich aber auch von der Art und Weise, wie viele Produktionen hierzulande Thema begreifen: als Problem einer Figur, die stellvertretend für uns etwas lernen muss oder soll – anstatt als eine Art Landkarte, die es uns erlaubt, in immer neue unerforschte Regionen unseres Story-Universums vorzudringen. Was diese Beispiele außerdem zeigen, ist: dass zwischen Sujet und Thema ein Abstand bestehen kann, bestehen darf und vielleicht auch bestehen sollte. Um vom Faschismus zu handeln, muss eine Geschichte nicht im Zweiten Weltkrieg spielen. Und bloß weil sie im Zweiten Weltkrieg spielt, handelt sie noch lange nicht vom Faschismus.

In der Analyse von Stoffen benutze ich ein einfaches Modell, um Story-Räume thematisch zu „vermessen“. Ich nenne es das „Modell der geteilten Stadt“. Dabei stelle ich mir die Welt der Geschichte wie das Berlin zur Zeit des Kalten Krieges vor: eine Stadt, zwei Hälften, getrennt durch eine schier unüberwindliche Mauer, die – wie wir hierzulande nur allzu gut wissen – auch eine Mauer in den Köpfen sein kann. Was diese Mauer trennt, sind nicht nur Menschen, sondern auch Ideologien. Den „Kapitalismus“ im Westen, den „Sozialismus“ im Osten. Jede Figur in dieser Welt hat nicht nur mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen, sondern ist Teil eines Systems, eines „thematischen Universums“. Wobei die interessantesten Figuren häufig die „Grenzgänger“ sind, diejenigen, die die Seite wechseln können, zwischen die Fronten geraten: die Spioninnen und Spione, Dissidentinnen, Republikflüchtlinge. Auch Autorinnen und Autoren sowie das Publikum müssen in diesem System ihren Platz finden, sind nicht teilnahmslos Beobachtende, sondern gestalten aktiv mit. Auf diese Weise werden Geschichten nicht nur zu einem Kommunikationsinstrument, sondern auch zu einem fortwährenden Diskurs darüber, wer wir sein und wie wir als Gemeinschaft miteinander leben wollen. Aus bloßen Fakten werden so Geschichten mit Bedeutung.

„Okay then.“

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