Die Drehbuchschneiderei

Man kann „Das Lehrerzimmer“ nicht mit „Vertigo“ vergleichen. Aber man kann es versuchen.
16/01/2024
Alexander Lauber
Aus der Rubrik:

Alexander Lauber ist Lektor und Dramaturg, Mitglied im Vorstand des Verbandes für Film- und Fernsehdramaturgie VeDRA e.V. und Redakteur des Online-Fachmagazins Wendepunkt. Die ARD Degeto und das ZDF gehören seit Jahren zu seinen zufriedenen Kunden. Alexander lebt und arbeitet in Berlin. In seiner Freizeit beschäftigt er sich mit Schach und Meditation.

DAS LEHRERZIMMER mit einem Filmklassiker wie VERTIGO zu vergleichen, ist nicht nur unfair, sondern auch komplett aus der Luft gegriffen. Der Grund, warum ich hier dennoch genau diesen Vergleich anstelle, ist einer Marotte von mir geschuldet: Ich kombiniere Filme gerne zu “Double Features”, wobei mein innerer Algorithmus nur ein Auswahlkriterium kennt: Je unwahrscheinlicher, desto interessanter. Mein erster, sehr subjektiver Eindruck lautet daher: DAS LEHRERZIMMER ist der unhitchcocksche Film, den man sich denken kann. Hat er dennoch oder vielleicht gerade deshalb einen Auslands-Oscar verdient?

Die Nominierten

VERTIGO ist ein Film über einen Mann, der Obsession mit Liebe verwechselt, weil eine traumatische Erfahrung ihn zwingt, die Vergangenheit immer wieder aufs Neue zu durchleben – mit fatalen Folgen nicht nur für ihn selbst, sondern auch für die Frau im Zentrum seines Begehrens. In seinem angsterfüllten Streben nach Liebe entwickelt der männliche Protagonist eine gefährliche Tendenz zu Kontrolle und Dominanz und zerstört so das, was ihm am meisten bedeutet.

VERTIGO war 1959 für zwei Oscars nominiert (in den Kategorien Art Direction und Sound), gewann jedoch keine der begehrten Auszeichnungen.

DAS LEHRERZIMMER handelt von der jungen Lehrerin Carla Nowak, die den autoritären Tendenzen an ihrer Schule mit einer gut gemeinten, doch fragwürdigen Aktion entgegenwirken möchte, damit jedoch einen Shitstorm auslöst, der ihr erst den Atem und dann um ein Haar den Verstand raubt. Kolleg*innen, Eltern, Schüler*innen: Alle üben Druck auf Carla aus und ohne einen PR-Berater bzw. eine PR-Beraterin an ihrer Seite kommt ihr Krisenmanagement zunehmend ins Schlingern. Als ihr dann auch noch ihr bester Schüler Oskar Gewalt androht, schwindet die Hoffnung, dass Carla ihre Probezeit heil überstehen wird.

DAS LEHRERZIMMER gewann fünf Deutsche Filmpreise (Bester Film, beste Regie, beste Hauptdarstellerin, bestes Drehbuch, bester Schnitt), war für zwei Europäische Filmpreise nominiert (Beste Hauptdarstellerin, bestes Drehbuch) und steht auf der Shortlist für den Oscar als bester Internationaler Film, der im März 2024 in Los Angeles vergeben wird.

Spiralen und Zauberwürfel

VERTIGO dürfte zu den wenigen Filmen gehören, deren gesamte Erzählung sich auf ein einziges Motiv verdichten lässt: das der Spirale. Dass dieses Motiv sich nicht nur auf der Bildebene wiederfindet, sondern sogar in der Musik, lässt den Film selbst noch aus Hitchcocks an Meisterwerken so reichen Œu­v­re herausragen. (P.S.: Es hilft, einen Komponisten wie Bernhard Herrmann an der Hand zu haben, der es versteht, ein Thema auch musikalisch kongenial umzusetzen.)

Demgegenüber muss fast jeder andere Film zwangsläufig versagen. Dabei ist DAS LEHRERZIMMER keineswegs frei von Motiven und optischen Einfällen. Die Szene etwa, als Carla Nowak überall kuhnsche Blusen sieht, macht eindrucksvoll klar, wie sehr sie in dieser Sekunde an ihrem Verstand zweifelt. Und der Zauberwürfel wird zu einem Requisit, das uns ohne Worte etwas über Carla und ihre wechselhafte Beziehung zu ihrem Lieblingsschüler Oskar erzählt. Solche so genannten “Props” kennt man von der Theaterbühne, in deutschen Filmen sind sie eher selten zuhause, schon gar nicht als wiederkehrende Elemente und mit wechselnder Bedeutung. Das hätte auch Hitchcock nicht besser gekonnt.

Zwischen Vergangenheit und Zukunft

Die von James Stewart gespielte Hauptfigur in VERTIGO ist vielleicht nicht die komplexeste Hauptfigur aller Zeiten, aber sie besitzt etwas, das für dramatische Erzählungen unerlässlich ist: eine Backstory. Streng genommen ist es keine echte Backstory, denn sie spielt sich nicht etwa vor Beginn der Filmhandlung ab, wie es die Definition einer Backstory eigentlich verlangt, sondern wird der Haupthandlung lediglich vorangestellt. Das funktioniert, weil Scotties Backstory keine sehr komplizierte ist und sich in einer einzigen kurzen Sequenz etablieren lässt. Nach dieser Sequenz wissen wir: Seit jener Verfolgungsjagd über die Dächer von San Francisco und dem Todessturz seines Kollegen leidet Scottie an Höhenangst und musste deshalb sogar den Polizeidienst quittieren.

Carla Nowak hingegen besitzt keine Backstory. Wir erfahren lediglich, dass ihre Eltern aus Polen kommen und sie in Westfalen aufgewachsen ist.

Auf eine Backstory zu verzichten, hat weitreichende Konsequenzen. Eine Backstory gibt uns einen Fokus, sie betont eine Geschichte in einer ganz bestimmten Weise, lenkt damit die Erwartungen des Publikums Zuschauers und sorgt so für Spannung, weil wir uns fragen: “Was wird als Nächstes passieren?” In VERTIGO lesen wir den Plot als die Antwort auf Scotties Problem, die mögliche Heilung seiner backstory wound. Wir stellen uns die dramatische Frage: “Wird es Scottie gelingen, sein Trauma zu überwinden?” Weil der Charakterbogen in VERTIGO wichtiger ist als der Handlungsbogen, stören wir uns nicht an den vielen plot holes, denn die Geschichte ist nicht “plot-zentriert”, sondern character-driven.

In DAS LEHRERZIMMER fehlt dieser Fokus, diese Betonung. Es werden keine Erwartungen geweckt. Die Geschichte ist nicht spannend, weil sie unseren Blick weder in die Zukunft noch in die Vergangenheit lenkt.

Der Unterschied zwischen beiden Filmen ist: In DAS LEHRERZIMMER agiert die Hauptfigur ausschließlich in der Gegenwart, in VERTIGO im Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Zukunft. Die eine Figur ist statisch, die andere dynamisch.

Das Gesicht der Empörung

Scottie Ferguson in VERTIGO hat ein Ziel, es heißt: Madeleine. Als er merkt, dass er Opfer einer Intrige wurde, konfrontiert er Judith/Madeleine mit der Wahrheit – und reißt damit alle in den Abgrund.

In DAS LEHRERZIMMER ist es zunächst einmal interessant, was Carla nicht tut. Nach ihrer gescheiterten Beweisführung im Fall Frau Kuhn unternimmt sie keine weiteren Anstrengungen, neue Indizien zu sammeln und dadurch die Wahrheit vielleicht doch noch ans Licht zu bringen. Genauso wenig versucht sie, die Reputation Frau Kuhns wiederherzustellen, was ein Zeichen sein könnte, dass sie ihren Fehler erkannt hat und nun um Wiedergutmachung bemüht ist. Die Schlussfolgerung, die man daraus wohl oder übel ziehen muss, lautet, dass Carla weder an der Wahrheit, noch am Schicksal ihrer Kollegin sonderlich interessiert ist. Aber woran dann? Und wie geraten ihre Ziele in Konflikt mit denen der anderen?

Europäische Filmemacher*innen beharren schon sehr lange auf dem Recht einer Figur, passiv zu sein. Das Missverständnis besteht darin, zu denken, aktive “Held*innen” seien eine Konvention des kommerziellen amerikanischen Kinos. Aus diesem Grund sind sie allzu gern bereit, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Tatsächlich aber sind handelnde Figuren für das dramatische Erzählen so essentiell wie das Amen in der Kirche. Eine Figur, die nur redet, aber nicht handelt, ist letztlich eine Figur, die im Medium Film zu einer wabernden Nicht-Existenz verdammt ist.

In DAS LEHRERZIMMER wird sehr viel geredet: Frau Kuhn wird verdächtigt, eine Diebin zu sein. Frau Kuhn kündigt eine Klage an. Frau Kuhn sagt, ihr Leben sei zerstört. Ihr Sohn Oskar droht mit Gewalt, belässt es dann aber dabei, einen Mitschüler auf der Turnmatte umzustoßen und Carla ein blaues Auge zu verpassen. Nicht gerade der Stoff, aus dem unvergessliche Antagonist*innen gestrickt sind. Von Frau Kuhns Klage hören wir nie wieder auch nur ein Wort. Die Untersuchung gegen sie beschränkt sich auf wenige Zeilen im Off. Ihr angeblich zerstörtes Leben bleibt eine Selbstbehauptung, für die der Film keine Beweise liefert. Für die Kollegin, die möglicherweise das Kaffeekässchen geplündert hat, interessiert sich erst recht niemand. Wenn Sie den Film, vielleicht nach der Lektüre dieses Artikels, ein zweites Mal sehen, achten Sie bitte einmal auf die Anfangsszene: Carla führt ein scheinbar wichtiges Telefonat und schreibt sich eine Nummer auf den Handrücken. Erfahren wir je, mit wem sie gesprochen hat und worüber? Ruft sie jemals diese Nummer an? Das ist Inhalt ohne Bedeutung, Handlung ohne Konsequenz. In der Realität mag es das geben, in einem Drama haben solche Szenen nichts verloren, schon gar nicht in der so wichtigen ersten Szene eines Films. Es ist, als würde man eine Pistole etablieren, die dann aber nie abgefeuert wird.

In VERTIGO ist Scotties Obsession nicht einfach eine Eigenschaft, die seinem Charakter anhaftet oder die James Stewart durch sein Spiel in die Figur hinein trägt. Scotties Obsession ist etwas, was durch seine Handlungen zum Ausdruck kommt, ohne dass irgendjemand das Wort “Obsession” auch nur ein einziges Mal in den Mund zu nehmen braucht.

In DAS LEHRERZIMMER ist es vor allem der besorgte Gesichtsausdruck von Leonie Benesch, der uns für keine Sekunde über den Ernst der Lage im Unklaren lässt. Doch Figuren, die in öffentlichen Toiletten angestrengt in den Spiegel starren, sämtliche Papierhandtücher aus dem Spender reißen, in Mülleimer atmen oder heulend zu Boden sinken, sind vor allem eines: ein melodramatisches Klischee. Demgegenüber kreiert etwa die “Zauberwürfel-Szene” am Ende mit sehr viel weniger Pathos sehr viel mehr Emotion. Im/In der Zuschauenden.

Die Eskalation des Unrechts

Wir haben bereits festgestellt, dass VERTIGO von Obsession handelt und dass diese Obsession durch die Handlungen seiner Hauptfigur Gestalt annimmt. Das Thema eines Films ist eng verbunden mit dem Konflikt. Am Beispiel VERTIGO können wir allerdings sehen, dass ein Thema sehr viel essentieller für eine dramatische Erzählung ist als ein Konflikt. Scottie Ferguson hat keinen Konflikt, denn er weiß genau, was er will und steuert geradewegs auf sein Ziel zu, ohne dass er an sich selbst zweifelt oder jemand sich ihm in den Weg stellt. Dass VERTIGO dennoch spannend ist, liegt daran, dass wir als Zuschauende Zuschauer intuitiv um die Gefahr wissen, in die er sich begibt. Und je mehr er seiner Obsession verfällt, desto größer wird diese Gefahr und desto mehr steigt die Spannung.

In DAS LEHRERZIMMER ist es die von der Direktorin proklamierte “Null-Toleranz”-Politik, die Carla von Beginn an sauer aufstößt. Fragwürdige Verhöre, Razzien und wenig Gespür dafür, was falsche Anschuldigungen in einer multiethnischen Gemeinschaft anrichten können: Die Methoden der Schulleitung verdienen kaum das Prädikat wertvoll und werden später von der Schülerzeitung gar mit denen eines Unrechtsstaates verglichen. Demgegenüber verkörpert Carla gewissermaßen die Rechtsstaatlichkeit: Sie weist ihre Schüler auf das Recht hin, die Aussage zu verweigern, lehrt sie den Unterschied zwischen Fakten und Behauptungen und schärft ihnen ein, dass das System nur funktioniert, wenn alle sich an die Regeln halten. Genau diese Regeln sieht Carla außer Kraft gesetzt, als sie im Lehrerzimmer Zeugin wird, wie eine Kollegin allem Anschein nach das Kaffeekässchen plündert. Als ihr Kollege Thomas und ihre Kollegin Vanessa ihr dann auch noch zu verstehen geben, dass sie ihren des Diebstahls verdächtigen, aber mittlerweile von allen Vorwürfen freigesprochenen türkischstämmigen Schüler Ali Yilmaz loswerden wollen, sieht Carla sich zum Handeln gezwungen.

Was genau Carla mit ihrem Überwachungsvideo bezweckt hat, wird im Nachhinein immer unklarer und die Tatsache, dass sie selbst Methoden anwendet, die wenig mit Rechtsstaatlichkeit zu tun haben, rücken sie als Charakter in ein fragwürdiges Licht. Handelt so eine Person, die sich bis eben noch durch Wort, Tat und Mimik klar gegen den harten Kurs der Schulleitung positioniert hat? Woher diese Inkompetenz bei der Auswahl ihrer Methoden? Einer Lehrerin möchte man hier doch eigentlich mehr zutrauen. Oder haben die wenigen Monate an der neuen Schule Carlas Rechtsempfinden bereits derart ausgehöhlt, dass sie dabei ist, den Verstand zu verlieren und buchstäblich Gespenster sieht? Und woher kommt am Ende Carlas Fähigkeit zur Veränderung? Hat die Schrei-Therapie sie von ihrer Inkompetenz geheilt? Warum dann aber erst jetzt und nicht schon viel früher?

Was ich in DAS LEHRERZIMMER vermisse, vor allem im 2. Akt, ist eine Eskalation des Unrechts, die sich in Handlung und Gegenhandlung ausdrückt und zu einem Höhepunkt führt, an dem das Gut, das es zu verteidigen gilt, ich habe es hier die „Rechtsstaatlichkeit“ genannt, endgültig und unwiederbringlich verloren scheint. Was ich stattdessen sehe, ist viel Empörung bei gleichzeitig wenig Konsequenzen. Ich sehe erzählerische Fahrlässigkeiten wie etwa die Szene, als Alis Vater droht, seinem Sohn die Beine zu brechen, sollte er ihn jemals beim Klauen erwischen. Was will mir diese Szene sagen? Dass sämtliche Vorurteile gegen türkische Mitbürger berechtigt sind, weil ihnen Ehre letztlich wichtiger ist als Recht und Gesetz? Was steht in DAS LEHRERZIMMER auf dem Spiel? Worum mache ich mir als Zuschauer Sorgen? Um Carla? Um Frau Kuhn, deren Existenz Carla angeblich zerstört hat? Um Oskar, den Ex-Musterschüler auf seinem Weg zum “potenziellen Gefährder”? Hitchcock war ein Meister in der Manipulation unserer Gefühle. Deutsche Filmemacher*innen tun oft alles, um genau diese Manipulation zu vermeiden. Ich fürchte, sie tun es schon so lange, dass sie es auch nicht mehr könnten, selbst wenn sie es wollten.

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