Die Drehbuchschneiderei

Good Bye Lenin!
Aus dramaturgischer Sicht
30/07/2021
Alexander Lauber
Aus der Rubrik:

Alexander Lauber ist Lektor und Dramaturg, Mitglied im Vorstand des Verbandes für Film- und Fernsehdramaturgie VeDRA e.V. und Redakteur des Online-Fachmagazins Wendepunkt. Die ARD Degeto und das ZDF gehören seit Jahren zu seinen zufriedenen Kunden. Alexander lebt und arbeitet in Berlin. In seiner Freizeit beschäftigt er sich mit Schach und Meditation.

Im Sommer 2021 war dieser deutsche Klassiker aus dem Jahr 2003 Gegenstand einer Dramaturgie-Arbeitsgruppe zum Thema "Melodram". Ich habe den Film dabei zum ersten Mal gesehen - und meine Begeisterung hielt sich in Grenzen.

Logline

Die DDR lebt weiter – auf 79qm!

Synopsis

Achtung, Spoiler Alert!

Ost-Berlin, 1989. Kurz vor dem Ende der DDR erleidet die überzeugte Sozialistin CHRISTIANE KERNER einen Herzinfarkt, als sie ihren Sohn ALEX zufällig unter den Teilnehmer*innen einer Demonstration für mehr Pressefreiheit erblickt. Als sie acht Monate später aus dem Koma erwacht, ist die Mauer weg und Alex hat ein Problem: Um seiner Mutter möglichst jede Aufregung zu ersparen und so einem zweiten, diesmal womöglich tödlichen Infarkt vorzubeugen, inszenieren er und seine Freunde ein gigantisches Täuschungsmanöver, bei dem sie die bereits abgewickelte DDR noch ein letztes Mal wiederauferstehen lassen – inklusive Spreewaldgurken, FDJ-Chören und Aktuelle Kamera.

Kommentar

Es passiert nicht alle Tage, dass man einem deutschen Drehbuch sein komisches Potenzial auf den ersten Blick ansieht. Anders als Prämisse und Trailer vermuten lassen, enthält die Geschichte aber auch allerlei melodramatische Elemente, wodurch eine Klassifizierung als Tragikomödie oder Comedy Drama am Ende vielleicht angemessener scheint.

Der ironisch-gebrochene Kommentar des Ich-Erzählers Alex hält uns vor allem im 1. Akt merklich auf Distanz. Große Bögen (wie der emotionale Zusammenbruch der Mutter) werden mit wenigen Worten erklärt, was eine emotionale Anteilnahme am Schicksal der Figuren zunächst schwierig macht. „Show, don’t tell!“, heißt nicht umsonst ein vielbeachteter Grundsatz der Dramaturgie.

Der mit 30 Minuten gefühlt überlange 1. Akt findet dennoch nicht die Zeit, ein starkes Band zwischen der Hauptfigur Alex und seiner Mutter zu etablieren. Das mindert die Fallhöhe des Dramas, denn für Alex steht natürlich umso mehr auf dem Spiel, je mehr ihm seine Mutter bedeutet.

Alex ist eine sehr statische Figur, sein Charakter größtenteils (Selbst-)Behauptung. Seinen Kindheitstraum, als zweiter Deutscher das Weltall zu bereisen, hat er längst aufgegeben. Nach seinem Vater fragt er nie und auch die Schuldgefühle, die ihn nach dem Zusammenbruch seiner Mutter doch eigentlich umtreiben sollten, werden nicht thematisiert. Die Autoren finden keinen Weg, das Innere ihrer Hauptfigur nach außen zu kehren, sprich: in Handlung zu übersetzen. Alles, was wir über Alex erfahren, ist: Er will seine Mutter retten. Aber was treibt ihn wirklich an? Was hat er zu verlieren? Und was würde passieren, wenn er sein Ziel nicht erreicht?

Zu den grob misslungenen Aspekten des Films gehört die Liebesgeschichte zwischen Alex und der russischen Krankenschwester Lara. Im Off-Kommentar erfahren wir, dass Alex es vor allem auf Laras hübsche Beine abgesehen hat. Bei ihrer ersten Begegnung genügt ein Blick und wir sollen wissen, dass sich hier zwei gefunden haben, die füreinander bestimmt sind. Warum das so ist, bleibt indes ein Geheimnis.

Die Abwesenheit des Vaters ist ein Thema, das sich durch den gesamten Film zieht und sich bereits im Filmtitel ankündigt. Dennoch hat die Begegnung zwischen Alex und seinem leiblichen Vater am Ende dramaturgisch keine eindeutige Bewandtnis – entsprechend unvorhersehbar ist die emotionale Wirkung dieses vermeintlichen Schlüsselszene.

Als sich die Öffnung der Grenze schließlich nicht länger verheimlichen lässt, lassen sich Alex & Co. einen genialen Twist einfallen: Sie neu-interpretieren den Mauerfall als große humanitäre Geste des DDR-Regimes, was die historischen Aufnahmen nachträglich in einem völlig neuen Licht erscheinen lässt – ein Bild von großer suggestiver Kraft, das den Geist; sprich: die erzählerische Absicht, der Erzählung vielleicht wie kein anderes auf den Punkt bringt.

Das dramaturgische Grundmuster des Films ist die Frage nach Lüge oder Wahrheit. Alex entscheidet sich zunächst für die Lüge, wird aber – so verlangen es die Konventionen des Komödien-Genres – schlussendlich damit scheitern müssen. Die Situation spitzt sich allerdings im Verlauf des 2. Akt nicht – wie zu erwarten wäre – immer weiter zu, sondern bleibt über weite Strecken auf einem konstant-moderaten Spannungsniveau.

Auch die eigentlich für ein solches Szenario obligatorische Höhepunkt-Szene, in der die Hauptfigur sich gezwungen sieht, die Lüge aufzudecken und Wahrheit zu sagen, findet nicht statt. An Alex‘ Stelle übernimmt Lara die Rolle der Wahrheitsverkünderin – dramaturgisch eine Deus-ex-machina-Lösung, wie es sie in aller Regel zu vermeiden gilt.

Fazit: Eine großartige Prämisse, doch in der Umsetzung mit zahlreichen dramaturgischen Mängeln. Auf die Besucherzahlen hatten diese freilich keinen Einfluss: Allein in Deutschland sahen den Film mehr als 6 Millionen Menschen!

Votum

Zur Diskussion

Daten & Fakten

Filmtitel: Good Bye Lenin!
Format: Spielfilm
Genre: Drama
Kategorie: Original-Drehbuch
Land: Deutschland
Jahr: 2003
Drehbuch: Bernd Lichtenberg, Wolfgang Becker, Achim von Borries
Regie: Wolfgang Becker
Besetzung: Daniel Brühl, Katrin Saß, Chulpan Khamatova

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